LESEPROBE

"Alfons"

"Ich kenne dich", sagte der alte Mann. "Es ist gut, dass du endlich kommst."
Es war dämmrig in dem Beichtstuhl. Ich fragte mich, wie er mich überhaupt erkennen konnte. Ich hatte die Kirche aufgesucht, um allein zu sein. Wenn ich nicht sein Räuspern gehört hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass noch jemand mit mir im Raum sein konnte. Ich war zusammengezuckt und hatte mich umgesehen. Das Geräusch kam aus der Ecke, wo der Beichtstuhl stand.
In dem Moment wusste ich, wozu ich die Kirche betreten hatte. "Wie können Sie mich kennen, Vater? Ich bin nicht von hier", sagte ich. Seine Stimme klang brüchig, aber man konnte ein warmes Lachen darin hören.
"Du bist Alfons. Ich habe dich getauft."
Sie können mir glauben, es hat mir einfach die Sprache verschlagen. "Vater", sagte ich schließlich, "wie können Sie mich noch kennen?" "Ich habe auf dich gewartet", sagte er. Da wusste ich endgültig, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben konnte. Aber es war mir egal. Ich war zu einer Exerzitienwoche in das Benediktinerkloster gekommen, und vor einer halben Stunde hatte man mich aus dem Refektorium an das Telefon gerufen, wo mir mein Hausarzt den Befund der Krebsvorsorge mitgeteilt hatte. Kann man nach einem solchen Anruf noch normal sein?
Wie alt mochte der Mann im Beichtstuhl sein, der behauptete mich getauft zu haben und der, nachdem die kleine Kirche in unserem Ort ausgebombt war, unsere Gemeinde verlassen hatte und nie wieder zurückgekommen war?
"Du wolltest mir etwas erzählen", sagte die Stimme aus dem Beichtstuhl. Etwas zerrte in meinem Bauch, als wenn der Mann hinter dem Vorhang an einer unsichtbaren Strippe zog, die in meinen Eingeweiden festgeknotet war. Ich hatte zuletzt am Sonntag gebeichtet und es war nichts, aber auch gar nichts seitdem vorgefallen, was hier hin gehörte. Schließlich war ich seit dem Montagmorgen im Kloster.
"Was sollte ich Ihnen erzählen wollen?", fragte ich. Es fiel mir nicht ein. Hatte er zufällig das Telefonat von eben mitgehört und wollte mir jetzt seelischen Beistand leisten?
"Du trägst ein böses Geschwür in dir", sagte er.
Tatsächlich.
"Haben Sie das Gespräch gehört?"
Er gab darauf  keine Antwort.
"Wenn du es besiegen willst, musst du es aufspüren, da, wo es seinen Ursprung genommen hat, und den Knoten lösen."
Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, wie es einem in einer solchen Situation geht. Das Absurde dieser Begegnung trat einfach zurück hinter meiner Verlorenheit in dieser Welt, in die ich nach meiner Diagnose nicht mehr recht zu passen schien. Ich weiß bis heute nicht, wie der Mann hieß, der mich vor einem Zweidritteljahrhundert getauft hatte und der mir in dieser Klosterkirche die Beichte abnahm. Aber ich habe ihm vertraut.
"Wie soll ich es aufspüren, Vater?", fragte ich. "Ich bin kein Arzt." "Du bist hier im Kloster, Alfons", erwiderte mein Beichtvater, "nicht in der Chirurgie. Du brauchst kein Skalpell. Es könnte trotzdem wehtun." "So ein Karzinom ist Schicksal. Ich habe gewiss gesündigt im Leben. Aber es gibt größere Sünder, die es nicht ereilt."
"Die Frage ist nicht, ob diese Krankheit deiner Schuld angemessen ist oder nicht, Alfons. Gott ist groß. Du hast einen Namensvetter, den heiligen Alfonsus von Liguori, der uns von der göttlichen Barmherzigkeit Zeugnis abgelegt hat. Wenn du nur deine Schuld zu erkennen bereit bist, ist Gott auch bereit, dir zu verzeihen."
"Aber was zum Himmel habe ich denn verschuldet?" Das hohe Gewölbe warf meinen Aufschrei zurück. Ich erschrak über meine eigene Heftigkeit.
Mein Beichtvater schwieg.
Schließlich sagte ich beschämt, aber immer noch trotzig: "Ich kann mich nicht entsinnen, was ich Schlimmes getan haben sollte."
"Denk daran, was Clemens zu dir gesagt hat", sagte er.
Clemens. Wer war Clemens? Ich spürte wieder das leise Zerren in meinen Eingeweiden. Clemens. Das lag irgendwo ganz weit zurück.
Als erstes fielen mir seine Augen ein. Strahlende grünlich-blaue Augen, fast ohne Wimpern. Ein sommersprossiges Gesicht und rote Haare. Lederhosen, wie wir sie alle damals trugen. Er kam von dem Nachbarhof, hatte noch sechs Geschwister, alle so rothaarig und sommersprossig wie er. Judenkinder. Als ich von der Kinderlandverschickung zurückkam, waren sie verschwunden. Weggezogen oder so, wer weiß das schon so genau.
Eigentlich waren sie ja gar keine Juden. Sie waren genauso getauft wie wir und kamen auch zur Messe. Später wohl nicht mehr so häufig. Ich weiß es nicht mehr so genau. Aber was ich noch gut in Erinnerung behalten hatte, das waren unsere Buden. Wir haben immer irgendwelche Buden gebaut, wo wir uns dann trafen und Streiche ausheckten, Clemens, Paul und ich.
Ich erinnerte mich an Lagerfeuer im Wald und das Anpirschen an die Hühner des Nachbarn. Einmal hatten wir ein Huhn und eins der Ferkel entführt und in unsere Bude am Waldrand gesperrt. Wir wollten unseren eigenen Bauernhof aufmachen. Aber das Ferkel hatte so erbärmlich gequiekt, dass die Männer, als sie von der Schicht zurückkamen, unsere kleine Landwirtschaft schnell aufgespürt hatten. Wir wurden mit einer Tracht Prügel ins Bett geschickt.
Ich wollte damals schon immer Architekt werden, Clemens Bauer und Paul Feuerwehrmann. Und das übten wir dann: Buden bauen, Tiere versorgen, Feuer löschen.
Wissen Sie, wie kleine Jungs Feuer löschen im Wald? Wir konnten das gut. Im hohen Bogen oder flächig-spritzig, je nach Bedarf. Obwohl Paul ja der Feuerwehrmann werden wollte, konnte er mit mir nicht mithalten, was den Mittelstrahl anging. Der Mittelstrahl ist das Entscheidende. Wenn man den so richtig satt und gleichmäßig über die Flammen verteilt, dann ist der Rest ein Pipifax – im wahrsten Sinne des Wortes.
Wieder spürte ich, wie es in meinen Eingeweiden zog. Was hatte Clemens noch gesagt?
Geschrieen hatte er. Beschworen hatte er mich. Paul genauso. Wir hatten eine Bude in den Brombeerhecken hinter der Kirche gebaut. Eine tolle Festung, wo uns so leicht keiner aufspüren konnte, weil wir einen natürlichen Schutzwall hatten. Wir hatten ein Feuerchen gemacht, ich sah es jetzt deutlich vor mir.
Die Flammen waren knisternd hoch gezüngelt, und wir hatten erst alle Hölzchen hineingeworfen, die wir hinter der Kirche am Boden gefunden hatten. Als das Feuer so richtig hoch brannte, hatte Paul eine alte Latte aus der Seitenwand von unserer Bude gezogen und hatte sie mitten rein geschmissen. Es hatte einen mächtigen Funkenregen gegeben, der uns umwirbelte. Wir lachten und tanzten in dem Funkenregen und klopften uns gegenseitig die Funken vom Rücken, damit es keinen Ärger gab zu Hause. Wir waren so damit beschäftigt gewesen, dass wir unsere Bude eine Weile nicht beachtet hatten.
Die Funken waren wohl auch auf dem Dach gelandet und hatten dort einen kleinen Brandherd entfacht. Clemens sah es als erster. Er schrie auf einmal und zeigte zu der Bude. Dann knöpfte er hastig den Latz von seiner Lederhose auf. Paul tat es ihm gleich. Sie mussten einen hohen Bogen ansetzen, um das Dach zu erreichen. Im ersten Ansatz verfehlten sie es.
"Los, Alfons", rief Paul, unser Feuerwehrhauptmann, "Wasser marsch!" Aber ich ließ mir Zeit für meinen Auftritt. Die beiden sollten nur sehen, wie sie mit ihren Wasserwerfern neben mir aussahen.
Erst als beide so ziemlich ihr Pulver verschossen hatte, begann ich gemächlich, meine Hose aufzuknöpfen.
"Alfons, mach!", schrie Clemens. Er war immer der hasenfüßigste von uns dreien gewesen. Und jetzt war er ziemlich panisch. Dem Feuer hatte die Löschattacke wenig anhaben können. Das Dach unserer Bude brannte. Ich wollte mich beeilen, aber irgendwie verhakten sich die Knöpfe, und je heftiger ich zerrte, umso höher schlugen die Flammen. Paul sah sich schon um, ob nach anderen Löschmöglichkeiten oder nach unerwünschten Beobachtern, weiß ich nicht.
Clemens schrie: "Alfons! Mach doch keine Mätzchen! Los!" Er griff nach einer Latte, die aus der Seitenwand unserer Bude ragte, und zerrte an ihr. Endlich rutschte das Brett heraus und Clemens fiel durch den Ruck auf den Hosenboden. Im selben Moment platzte mir der Hosenknopf ab, die Bude fiel in sich zusammen und brannte jetzt lichterloh.
Es hatte keinen Sinn, hier noch zu löschen. Ich stand wie betäubt mit heruntergelassenem Latz vor dem Inferno, während Clemens mit der Latte auf das Feuer eindrosch und die Flammen nur noch mehr verteilte. Das Feuer züngelte jetzt an der Kirchenwand hoch und rußte sie schwarz.
"Alfons! Hast du einen Knoten in der Blase? Lösch doch endlich!", schrie Clemens verzweifelt. Aber es war, wie er sagte. Mir war das Wasser in der Blase stecken geblieben angesichts der Feuerwand vor mir. Paul war verschwunden. Und ich wollte mich auch auf den Rückzug machen. Clemens war rußgeschwärzt. Er sah, was ich im Sinn hatte, und da schrie er –
"Was hat Clemens gesagt?" fragte mein Beichtvater.
""Du blöder Angeber!", hat er geschrieen. "Verreck an deinem Knoten in der Blase!"", sagte ich. Ich hatte es wörtlich im Ohr.
"Was ist dann passiert?", fragte die Stimme im Beichtstuhl.
"Ich weiß es nicht", sagte ich. "Ich bin weggelaufen. Aber Clemens ist stehen geblieben mit seiner verrußten Latte. Die Kirche hatte Feuer gefangen. Ein Judenkind hinter einer brennenden deutschen Kirche. Die Feuerwehr hat es gelöscht. Clemens war dann weg. Ich weiß nicht, was aus ihm und seiner Familie geworden ist."
"Was hast du dann gemacht?", fragte mein Beichtvater.
"Nichts", sagte ich. "Ich kam zur Kinderlandverschickung nach Gera."
"Erkennst du deine Schuld?", fragte er.
"Ich habe meinen Bruder verraten", entgegnete ich.
"Du hast aber auch deine Brüder gerettet", entgegnete er. "Du weißt, was mit der Kirche geschah?"
"Sie wurde zerbombt, als ich in Gera war."
"Weißt du auch wann genau?"
Das wusste ich nicht.
"Sie wurde an einem Sonntagmorgen von einer Bombe zerstört. Aber es war niemand in der Messe. Weil die Messe nicht stattfand. Die Kirche war wegen des Brandschadens geschlossen", sagte er. "Siehst du jetzt, dass Gott gnädig ist?"
Ich schwöre Ihnen, genau so war es. Als ich den Krebs überstanden hatte, bin ich in das Kloster zurückgekehrt, weil ich ihn noch einmal sprechen wollte. Aber keiner kannte ihn dort.

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