LESEPROBE

"Bäumer strahlt"

Plötzlich war dort, wo eben noch das alte Haus gestanden hatte, ein Krater. Staubnebel waberten über der Unglücksstelle.

Bäumer schob seine Mütze in den Nacken und kratzte sich hinter dem Ohr. Dann ging er auf den Krater zu. Auf dem Weg dorthin begegnete er Trümmerfetzen aus seiner Kindheit, aber er beachtete sie nicht. Erst am Rand des Kraters blieb er stehen. Wieder griff er nach seiner Mütze und schob sie sich diesmal in die Stirn, um sich den Nacken zu kratzen. Dann schob er sie wieder zurück. Dieses leise kratzende Geräusch, das die über seine Stoppelborsten vor- und zurückgeschobene Mütze machte, und das ungleich schnellere Schrapp-schrapp-schrapp, das seine kurzgeschnittenen Fingernägel auf der Kopfhaut verursachten, war das einzige Geräusch, das die ohrenbetäubende Stille nach dem finalen Knall durchschnitt.

Das Geräusch war ihm sehr vertraut. Der Stoppelbart seines Onkels hatte ihm damals die gleiche Gänsehaut verursacht, wenn er mit seinem aufgedunsenen Gesicht an der Lederhose des Jungen entlang geschrappt war. Damals waren Bäumers Haare noch nicht so borstig gewesen, aber über diesem Geräusch waren sie steif und hart geworden und hatten sich vom Kopf weg gesträubt, als wenn es ein Entrinnen hätte geben können aus diesem schmächtigen Knabenkörper. Es gab keins. Nicht, wenn der Onkel fertig war, und auch nicht, wenn er anschließend danach trachtete, dem Jungen die verletzte Seele aus dem Leib zu prügeln, als könnte er damit ungeschehen machen, was er in seinem Quartalsdelirium immer wieder anrichtete. Bäumers Seele hatte sich mit der Zeit ganz klein und hart gemacht und sich irgendwo versteckt, wo er selbst sie erst nach vielen Jahren wieder fand, nicht erkannte, verwerfen wollte, sie betäubte und zu ertränken versuchte, aber auch dann blieb sie in ihm verankert, irgendwo, wo sie gar nicht hingehörte, eine kleine schwarze borstige Kugel, die ihn inwendig kratzte und ein hässliches Geräusch erzeugte in diesem Hohlkörper, in dem sie hin- und hergeschubst wurde, weil sie zu nichts gut zu sein schien.

Als man den Onkel dann für ein paar Jahre wegsperrte, Bäumer aus dem alten Haus holte und in den grauen Kittel steckte, war schon alles zu spät. Die größeren Kittelträger übernahmen des Onkels Werk. Sie waren weniger brutal und ließen ihn auch schon mal an der Zigarette ziehen, und so hatte Bäumer sich eingefunden in dieser grauen Welt voller Schmerzen und kratzender Geräusche und mit der kleinen schwarzen Kugel, die nur noch selten aus irgendeinem Versteck kam und suchend durch Bäumers Leib irrte.

Als das dritte Jahr zu Ende ging, hatte die Heimleitung ein Sylvesterfeuerwerk für die größeren Zöglinge angeordnet. Die Jungen mussten in einer Reihe auf dem Vorplatz antreten, um kurz vor Mitternacht das große Ereignis abzuwarten. Eine doppelte Reihe kurzgeschorener stoppelharter Graukittel, die erwartungsvoll die Mützen in den Nacken geschoben hatten, um von dem Schauspiel nur ja nichts zu verpassen.

Der Raketenzauber begann und Bäumer stand wie vom Donner gerührt da. Er starrte mit angehaltener Luft in den Himmel, der goldenes Licht über ihn sprühte, Fontänen von Lichtblitzen, eine gewaltiger als die andere, so dass etwas in ihm zu hüpfen begann und auf einmal ganz leicht und hell erschien.

In der gleichen Nacht hatte er dem Stubenältesten sein Taschenmesser in den Leib gerammt, als der ihn auf seinem Etagenbett besuchen kam. Rote Fontänen spritzten dem Jungen aus Bauch und Hals. Wenn es auch nicht an das Schauspiel am Himmel heranreichte, so war es doch ein strahlendes Rot, eine warme Farbe, kein Vergleich mit dem Grau und Schwarz.

Bäumer hatte Blut geleckt.

Wenn es auch viele Jahre dauern sollte, bis er dieses goldene Leuchten hinbekommen sollte, so war er doch auf dem Weg.

Der blendend helle Blitz war längst erloschen. Aber der graue Staubnebel lichtete sich jetzt. Strahlen brachen allmählich durch das Grau, das sich in den Krater verzog, um das, was von Bäumers Kindheit übrig war, zu bedecken.
Am Rand des Kraters stand er, Bäumer, und strahlte. Das Strahlen kam aus seinem tiefsten Inneren, wo die kleine schwarze Kapsel jetzt aufgebrochen war. Sie ruhte genau in seiner Mitte, weit aufgeklappt, und innen drin war ein solches Leuchten, dass Bäumer selbst geblendet die Augen schließen musste vor diesem gleißenden Licht, das sich in Kaskaden über den Krater ergoss, wo eben noch das alte Haus gestanden hatte.

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