LESEPROBE

"Laura Schlüsselkind"

König Magnus war der kleinste König, den man sich denken kann.

Seine Frau, die Königin Margot, hatte sie sich immer darüber geärgert, weil sie neben ihm nie ihre hochhackigen Schuhe anziehen konnte, in denen sie so verführerisch aussah. Immer musste sie sich klein machen. Sie kriegte Minderwertigkeitskomplexe und Rückenschmerzen und musste schließlich in Kur. Da lernte sie einen anderen König kennen, der groß war und mit dem sie weglief.

König Magnus vermisste sie kaum.

Allerdings ließ die Königin noch jemanden zurück und das war die kleine Prinzessin Laura. Die vermisste sie. Zwar hatte die Königin die meiste Zeit offiziellen Dienstverpflichtungen nachkommen müssen, aber eine Mutter ist eine Mutter. Laura kam in die Königliche Krabbelstube, den Königlichen Kindergarten und schließlich in die Königliche Grundschule mit integrierter Mittagsbetreuung, so dass sie immer versorgt war. Aber man kennt das ja, wenn die Mutter weg ist und der Vater nach der Arbeit immer erst noch seinen Aktenkram erledigen muss, ehe er in Ruhe die Königlichen Nachrichten lesen will, - die Prinzessin war sich meist selbst überlassen. Solche Kinder sind immer ein bisschen traurig. Aber das verstecken sie und kriegen es faustdick hinter den Ohren.

Bei Laura war das so: Hinter dem rechten Ohr saß Luzi, der kleine Teufel. Links hockte Lelia, der kleine Engel. Laura stellte ihr linkes Ohr meist auf Durchzug, weil ihr Lelia ziemlich auf den Zwirn ging. Luzis Anstacheleien hingegen fand sie ziemlich cool.

So wunderte sich der König über Manschettenknöpfe in der Kaffeetasse, über die mit Schnurrbärten verzierten Fotos seiner Minister in den Königlichen Nachrichten und über den versalzenen Tee. Dabei hätte er schwören können, dass er einen Löffel Zucker aus der Zuckerdose hineingerührt hatte.

Der König schenkte dem wenig Beachtung. Bis ihm eines Tages doch der Kragen platzte. Es ging darum, wer den Königlichen Müll in den Keller bringen sollte.

"Laura", sagte König Magnus würdevoll, "die letzten beiden Male war ich dran."

"Der spinnt!", rief Luzi Laura ins Ohr.

"Er hat Recht", wisperte Lelia.

"Du hast ja wohl einen Vogel", sagte Laura.

Des Königs Miene verfinsterte sich.

"So sprichst du nicht mit deinem Vater!", sagte er.

Lelia hatte es für einen Moment die Sprache verschlagen.

"Sag, du hättest Angst allein im Keller!", raunte Luzi.

"Ich trau mich nicht", jammerte Laura. "Es ist dunkel!"

"Dafür gibt es Lichtschalter", entgegnete der König.

"Schwarzer Mann!", gab Luzi Stichwort.

"Da ist ein schwarzer Mann versteckt!", klagte Laura.

Der König seufzte.

"Wir gucken gemeinsam nach dem schwarzen Mann. Und beim nächsten Mal gehst du allein, klar?"

Was blieb Laura übrig? Sie ging mit dem Vater hinunter, schloss die Tür auf, weil er ja die Hände voll hatte, und blieb an der Tür stehen, während der König die Tüten in die Tonnen warf.

"Die Tür!", rief Luzi.

Noch ehe Lelia reagieren konnte, hatte Laura die Tür zugeschlagen, den Schlüssel herumgedreht und war die Treppe hinauf auf die Straße gelaufen. Fröhlich hüpfte sie die Bordsteinkante entlang.

Das linke Ohr hielt sie sich zu, in der Rechten schwenkte sie den Schlüssel.

"Gulli!", schrie Luzi.

Da ließ Laura den Schlüssel in den Gulli an der Kreuzung fallen.

Durch das Gulligitter sah man ihn unten liegen.

"Wie willst du den wieder rausfischen?", jammerte Lelia.

Laura war am Königlichen Bauspielplatz angekommen. Sie kletterte die Leiter zu einem der Baumhäuser hoch. In dem Baumhaus war eine Zigarrenkiste. Laura öffnete sie vorsichtig. Da waren Kerzenstummel, Streichhölzer, Malsteine, ein rostiges Küchenmesser und sogar ein kleiner Taschenspiegel. Eben hatten ihre Finger den Spiegel ertastet, als sie ein Räuspern hinter sich hörte. Sie fuhr herum.

In der dämmrigen Ecke des Baumhauses kauerte eine kleine zerlumpte Frau mit kariertem Kopftuch.

"Wow, eine Hexe!", schrie Luzi begeistert.

Aber Lelia jammerte: "Laura, pass auf!"

Die Frau hatte sich erhoben und sah Laura verärgert an.

"Was ist das?", fragte sie heiser.

Laura hielt sie der Alten verängstigt den kleinen Spiegel hin.

"Ah", krächzte die alte Hexe, "ein Spiegel für das Prinzesschen!"

Sie streckte ihre runzlige Hand aus: „Gib her!“

Die Hexe begutachtete sich im Spiegel Dann hielt sie ihn Laura vor und lachte. "Guck rein, mein Vögelchen, guck! Was siehst du?"

Laura sah in den Spiegel und erschrak. Sie sah einen kleinen Spatzen, der sie aufmerksam musterte.

"Einen Vogel", stammelte sie.

Die Alte kicherte. "Ein Vögelchen! – Was meinst du, warum du einen Vogel siehst?"

Lelia wisperte: "Das kommt davon!"

Laura war es heiß geworden.

"Ich hab mich mit meinem Vater gezankt", sagte sie leise. "Ich hab ihm gesagt, er hätte einen Vogel."

Die Hexe kicherte: "Wie Recht du hattest! Du bist sein Vögelchen!"

"Oh je", jammerte Lelia.

"Cool", juchzte Luzi, "du kannst fliegen!"

"Und?", fragte die Alte amüsiert, "hat er dir den Hintern versohlt?"

"Nein...", Laura zögerte. Sie spürte, dass die Hexe es genau wusste.

"Die alte Schachtel will dich nur ärgern", ereiferte sich Luzi.

"Wie willst du das wieder in Ordnung bringen?", klagte Lelia.

"Na?", die Hexe hielt den Spiegel dicht an Lauras Gesicht. Laura wich zurück und flatterte. Sie merkte erstaunt, dass sie tatsächlich fliegen konnte.

Die Hexe lachte gellend und Laura flog verschreckt aus dem Baumhaus. Nach ein paar Flügelschlägen ließ sie sich mit größeren Bewegungen durch die Luft gleiten. Sie flog bis an die Straßenecke und setzte sich auf den Bordstein. Der Gulli lag vor ihr. Unten blinkte der Schlüssel.

"Los, flieg!", juchzte Luzi. "Du kannst überall hin!"

"Halt’s Maul!", sagte Laura böse.

Sie zwängte sich durch die Gullistäbe und mühte sich den Schlüssel mit ihrem kleinen Schnabel zu packen. Ein paar Mal rutschte er ihr weg, doch dann schaffte sie es endlich, ihn durch die Stäbe zu schubsen, und zwängte sich selbst hinterher.

Atemlos begann sie sich das zerzauste Gefieder zu putzen. Ihr Blick fiel auf eine kleine Pfütze. Zu ihrem Erstaunen sah sie in dem Spiegelbild sich selbst, Prinzessin Laura, die sich den Mund am Ärmel abwischte. Laura erstarrte. Sie tastete ihren Körper ab.

"Du bist wieder ein Mensch!", jubelte Lelia.

Luzi kniff ihr wortlos ins Ohr. Laura schnappte den Schlüssel und lief zum Königlichen Schloss. Im Keller steckte sie ihn ins Schloss und drehte ihn herum.

Der kleine König Magnus lehnte nachdenklich an der Wand. Er blickte überrascht auf.

"Papa!", Laura fiel ihm um den Hals. "Es tut mir leid, dass ich so gemein war!"

Der König kniete sich hin, dass er ihr in die Augen schauen konnte.

"Laura, mein Prinzesschen", sagte er rau, "ich bin auch nicht immer ganz nett zu dir. Vielleicht brauchen Menschen in deinem Alter doch ein bisschen mehr Papa."

Lelia und Luzi hatte es ausnahmsweise gleichzeitig die Sprache verschlagen. Laura schmiegte sich an ihren Vater. Er war so groß, dass ihr Gesicht unter seiner Achsel verschwand.

Der König schnupperte.

"Du riechst ja wie aus dem Gulli gezogen!", sagte er. "Höchste Zeit, dass ich dir mal wieder den Kopf wasche!"

Und das war auch höchste Zeit.

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