LESEPROBE

"Der Mann ihrer Träume"

Es war dunkel, kalt und feucht in dem Verlies. Alaa spürte, wie die Kälte durch ihre Kleidung kroch. Kadu hatte eine Decke um sie gelegt. Aber was konnte das dünne Gewebe schon ausrichten gegen diese Grabeskälte?

Ihre Zehen konnte sie nicht mehr spüren. Sie versuchte, sie zu bewegen, aber da war nichts. Ihre Beine waren fest zusammengeschnürt.

Es war der Anfang vom Ende. Es sollte ein langes Ende werden, darauf kam es an. Sie musste ihre ganzen Energien darauf richten, dass sie es möglichst lange durchhielt. Sie sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren, vergessen, was nicht mehr zu retten war, und sich auf das konzentrieren, was noch war.

Alaa ließ ihre Aufmerksamkeit höher wandern, in die Waden. Es gab sie noch. Sie waren hart vor Kälte, aber es war noch Leben in ihnen. Alaas Waden waren kräftig und mit weichem Flaum bewachsen, sinnliche Waden, die ein Mann gerne anfassen und streicheln würde. Kadu hatte ihr versprochen, dass sie einem Mann gehören sollte, der ihren Leib mit seinen Händen berühren würde.

Alaa wusste, dass sie Kadu vertrauen konnte. Er hatte sie vor allen Mädchen ausgewählt. Alaa hatte ihm gesagt, dass sie einem Mann gehören wollte, der ihre Brüste liebkosen würde und seinen Stab in sie pflanzen würde, so dass sie seinen Samen empfangen konnte wie das trockengelegte Land die Samen von Hirse, Roggen und Gerste, um Früchte zu tragen.

Eine Frucht wird dein Leib nicht mehr tragen können, hatte Kadu gesagt. Aber er wird dich überall berühren und einen Stab in dich pflanzen. Sie werden dich zu ihm bringen, wenn du dein Werk verrichtet hast und der  große Fluss gezähmt wurde. Wenn das Land freigeben ist, das Früchte tragen wird für dich, Alaa. Jede dieser Früchte wird ein Teil von dir sein, dein Kind, das du uns vermachst.

Aber wozu soll ich ihm dann noch gut sein, wollte Alaa wissen, wenn er mich nicht mehr befruchten kann. Du wirst ihn befruchten, entgegnete Kadu. Er wird reich sein durch dich. Du wirst seinen Ruhm vermehren.

Alaa sehnte sich danach, einen Schluck zu sich zu nehmen. Dann würde sie ihn sehen können, das hatte Kadu ihr versprochen. Sie sollte damit warten, bis sie nur noch das Herz in ihrer Brust spüren würde, nicht eher durfte sie trinken. Noch fühlte sie ihre Beine.

Alaa versuchte sich auf ihre Familie, die Freunde zu konzentrieren. Sie wollte ihre Energien spüren, aber es gelang ihr nicht. Sie wusste, dass sie an sie dachten. Sie mochten jetzt die Köpfe zusammenstecken und über sie sprechen. Aber auch wenn alles, was sie sagten, Worte der Liebe sein mussten, der Dankbarkeit, der Verehrung, Alaa konnte es nicht spüren. Sie empfand nur Kälte und Feuchtigkeit.

Die Feuchtigkeit war gut. So sollte es sein. Sie sollte mit der ganzen Energie ihres jungen Körpers die Feuchtigkeit an sich binden. Dazu hatte man sie hierher gebracht, zu der Schleife des großen Flusses auf der anderen Seite. Dazu hatte Kadu diesen Platz ausgesucht. Er hatte wochenlang die geeignete Stelle gesucht, mit den Bäumen gesprochen, auf die Winde und Gräser gehört und dem Fließen des Wassers nachgespürt. Der große gekrümmte Leib des gewaltigen Flusses wird ein schmaler Arm werden, hatte er gesagt. Du wirst dafür sorgen. Es wird lange dauern, aber so wird es kommen. Das Wasser wird eine Abkürzung finden, zum Segen der Menschen. Es wird dich umfließen. Du, Alaa, wirst in der Mitte liegen, umworben von dem mächtigen Strom. Das Sumpfland wird sich zurückziehen und mit ihm die Krankheiten, das Elend, die Not. Da, wo du bist, wird das Schilf blühen, die Wasservögel werden dort ihre Zuflucht finden und kein Mensch wird es wagen, in deinem Reich zu siedeln.

Aber wie werde ich den Mann finden, wollte Alaa wissen. Er wird dich finden, sagte Kadu. Wie wird er aussehen, fragte das Mädchen. Der alte Mann hatte noch einen tiefen Schluck von dem Gebräu genommen, er hatte die Augen geschlossen, und dann hatte er ihn beschrieben.

Blaue Augen wird er haben, wie der Himmel, der sich im Wasser spiegelt. Sie werden mit Eis überzogen sein, wie das Eis das Wasser bedeckt, wenn es kalt wird, und die Strahlen der Sonne sich darin brechen. Wie kann er mich sehen, wenn seine Augen mit Eis bedeckt sind, fragte Alaa. Kadu lachte lallend, weil der Trunk seine Zunge schwer machte. Er wird dich umso besser sehen können, sagte er, weil das Eis das Licht bündelt. Dann hatte er ihr versprochen, dass sie von seinem Gebräu trinken durfte, wenn es soweit war, damit sie ihn auch sehen könne, den Mann, der ihr bestimmt war.

Alaa war jung und stark. Sie lag vierunddreißig Stunden auf dem steinernen Boden, die Glieder fest verschnürt. Dann erst saugte sie mit letzter Kraft an der Schweineblase und nahm den berauschenden Trank in sich auf, den Kadu, der Zauberer, gebraut hatte, um ihr den Übergang zu erleichtern und ihr die Träume zu schenken, in denen sie den Mann sehen würde, dem sie bestimmt war.

Sie sah ihn.

Er beugte sich über sie und hielt den Atem an.

Seine Augen waren tiefblau. Er rückte er seine Brille zurecht und wandte sich ab.

Als er wiederkam, war sein Gesicht verhüllt, von der Nase abwärts. Die Hände hatte er mit einer dünnen Haut überzogen, und damit berührte er sie nun, ganz vorsichtig, so zärtlich, wie sie es nie bei einem Mann erlebt hatte. Er tastete ihren ganzen Leib ab, streichelte ihre Haut und fühlte ihre Muskeln darunter, ihre Sehnen und Knochen.

Dann nahm er einen Stab und führte ihn in sie ein. Alaa träumte nur, sie sah alles vor sich, aber sie konnte die Spitze nicht spüren, die in sie eindrang, und keinen Schmerz empfinden.

Er nahm ein Gerät in die Hand.

Stockstadt, 23.01.2008, 13 Uhr 7, sagte er. Die Frau ist in einem Top-Zustand. Selbst die Körperbehaarung an den Waden ist noch erhalten. Höchstens 14 Jahre. Vermutlich ein rituelles Menschenopfer der Jungsteinzeit. Eine Gewebeprobe habe ich entnommen. Das wird die größte Sensation seit Ötzi. Die ganze Welt wird auf das Oberrheintal blicken!

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