LESEPROBE

"Fly me to the moon"

Ich wurde am 12. September 2000 in der Ortschaft Hemmingen-Harplenbeck, Region Hannover, geboren, was ich meinen Eltern wohl in alle Ewigkeit übel nehmen werde. Mein Vater arbeitete damals als Gebäudereiniger bei einem örtlichen Reinigungsservice, der gleich um die Ecke ansässig war, in einer Straße mit dem sinnigen Namen Holzweg. Zu Harplenbeck ist nichts weiter zu sagen, als dass es 200 Jahre nach Christus dort bereits 100 Germanen gegeben haben muss, die in Holzhütten auf Pfählen hausten. Eine Null weiter, nämlich 2000 nach Christus, hatten sie es immer noch nicht auf 1000 gebracht.

Die Niederkunft meiner Mutter war daher mit einiger Vorfreude erwartet worden. Der Bürgermeister, so hieß es, hatte bereits einen großen Strauß Astern zur Krankenhauspforte anliefern lassen, weil ich im Begriff stand, ein Jubiläumskind zu werden. Astern waren als Herbstblumen im September nicht nur gerade zur Hand, sondern stehen für Würde und sollen Ehrungen verheißen, so wie ich dem Dörfchen Harplenbeck als 1000ste Einwohnerin zu mehr Ansehen und Ehre verhelfen sollte. Nun sind Astern aber auch just die Blumen, die man den Toten mitgibt. Ob es nun den unseligen Blumen, unfähigen Ärzten oder der gesundheitlichen Konstitution meiner Mutter zuzuschreiben ist: Sie erlitt unter der Geburt eine Eklampsie, die die Ärzte nötigte, die Niederkunft dramatisch zu beschleunigen, was mir vermutlich das Leben rettete, aber als sie mich endlich aus dem Geburtskanal gezerrt hatten, war meine Mutter schon tot. Nicht nur dass ich Halbwaise war, noch bevor ich recht das Licht der Welt erblickt hatte, strafte mein Vater mich zudem noch mit dem unsäglichen Namen Erdmute, mit dem er das Gedenken an seine verstorbene Frau hochhalten wollte. Ich wurde standesamtlich verbucht als 999ste Einwohnerin von Harplenbeck und nach mir wurde erst einmal wieder ein paar Jahre nur gestorben und weggezogen.

Während mein Geburtsort also wacker den Status Kaff aufrecht hielt, gab sich die Region Hannover im Jahr 2000 immerhin als Zentrum der Menschheit, war ihr doch als erstem deutschen Standort die Ehre zuteil geworden eine Weltausstellung zu veranstalten. Zwar hatte Berlin schon dreimal de facto dafür hergehalten, aber die offizielle Anerkennung war den Berlinern immer versagt geblieben. Bis auf diesen Statusvorteil ließ sich aber zur Expo 2000 in Hannover nichts Rühmliches vermelden. Hatte Berlin sich 1879 mit der ersten elektrisch betriebenen Eisenbahn, 1896 mit der bahnbrechenden Erfindung des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen und 1957 in der Wiederaufbauzeit mit so illustren Namen wie Le Corbusier und Walter Gropius brüsten können, so ist von der Expo 2000 nichts als der Pinkelprinz Ernst August von Hannover aus dem Geschlecht der Welfen im Gedächtnis geblieben. Etwas immerhin blieb damals von dem Geruch der großen weiten Welt an meinem Elternhaus haften: Es war mein Vater höchstpersönlich, der im Auftrag seiner Firma den türkischen Pavillon von den Hinterlassenschaften des spritzigen Adligen befreien durfte.

Ich habe konsequenterweise von meinem ersten Schrei an alles getan, um dem Mief meiner schmählichen Menschwerdung zu entkommen. Die Expo-Beschilderung, aus Kostengründen vielerorts bis zu ihrer endgültigen Verwitterung als natürlicher Bestandteil der Umwelt erhalten geblieben, begleitete mich noch viele Jahre auf meinen Wegen zu Kindergarten und Schule und erwies sich als richtungweisend: "Mensch – Natur – Technik. Eine neue Welt entsteht. Visionen für die Zukunft", waren die ersten Worte, die ich in freier Wildbahn entzifferte. Ja! Ich wollte Visionen entwickeln, gestalten, umsetzen! So wie die Franzosen sich im 19. Jahrhundert mit dem Eiffelturm und die Belgier sich im 20. Jahrhundert mit dem Atomium ein Denkmal gesetzt hatten, so wollte ich für das 21. Jahrhundert ein Zeichen setzen, das alles übertreffen sollte, was je von Menschenhand geschaffen worden war: einen "Erdmute-Tower" auf dem Mond! Wie ich gerade auf den Mond verfallen bin? Nun, wer sich nach oben arbeiten will, hält den Blick – logisch – nicht nach unten gerichtet! Da der Blick in die Sonne eher unerquicklich ist und der Himmel am Tag wenig Nachdenkenswertes zu bieten hat, auch wenn der Großteil der menschlichen Spezies nichts Besseres zu tun hat, als von morgens bis abends die Wetterlage zu eruieren, zog mich der nächtliche Sternenhimmel umso nachhaltiger in seinen Bann. Die Unendlichkeit des Raums faszinierte mich, die unzähligen Himmelskörper, deren Beschaffenheit die Menschheit bisher nur zu einem winzigen Bruchteil erschlossen hat, leibhaftig erkundet bisher erst einen, ihn, den ich zur Projektionsfläche meiner kindlichen Sehnsüchte erkor, um ihn während meines späteren Werdegangs nie aus den Augen zu verlieren, obwohl ich auf Bertreiben meines Vaters hin zunächst eine sehr bodenständigen Ausbildung absolvierte: eine Maurerlehre. Sie sollte mir nicht nur während meiner daran anschließenden Berufskollegzeit sehr zugute kommen sollte, da ich meinen Lebensunterhalt neben der Schule prima mit Schwarzarbeiten bestreiten konnte, sondern mir daneben auch Vieles vermittelte, was sich später als wertvoll erweisen sollte.

Mädchen, die eine Maurerlehre machten, waren auch im Jahr 2017 noch eher ungewöhnlich, aber ich konnte anpacken, war mir für keine Drecksarbeit zu schade und zäh. Ich genoss es, unter freiem Himmel arbeiten zu können, und in jener Zeit nahm die Idee des "Erdmute-Towers" allmählich Gestalt an. Wenn ich schon zu jenen gehören sollte, die mit ihrer Hände Kraft und im Schweiße ihres Angesichts eine neue Welt entstehen lassen sollten, so wollte ich doch zu denen gehören, die Visionen gestalten! Weltwunder auf der Erde gab es reichlich. Die Zukunft lag im Weltall, und die erste Etappe dorthin führte nun mal zum Mond!
Hemmingen-Harplenbeck hatte ich zu dem Zeitpunkt schon hinter mir gelassen und war nach Bermerode aufgerückt, wo ich gleich nach der Ausbildung eine Art Wohnküchenklo bezog: praktisch, quadratisch, billig. Es störte mich nicht, dass ich über keinen Komfort verfügte. Die Kunst auch noch den letzten Kubikdezimeter Lebensraum effektiv nutzbar zu machen, imponierte mir und inspirierte mich in Hinsicht auf meine Weltraumpläne. Mit der fachgebundenen Hochschulreife in der Tasche bewarb ich mich an der Leibniz Universität und begann ein Studium an der Fakultät für Bauingenieurwesen und Geodäsie, das ich zehn Jahre später  nach einigen Zwischenaufenthalten in den USA und Moskau mit der Promotion "summa cum laude" in der Tasche wieder verließ.

Zu der Zeit waren die Vorbereitungen der USA für eine Mondstation wieder in vollem Gange, nachdem sie aufgrund der zehn Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Krise und der darauf folgenden politischen Eiszeit zwischen der NASA und der ESA fast gescheitert wären. 2022 war die frisch gewählte amerikanische Präsidentin Michelle Obama bei ihrem ersten Europabesuch in Berlin dem Höhenflug eines abgehalfterten Musikers zum Opfer gefallen. Der ehemaligen Teenie-Star Bill Kaulitz hatte sich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückkatapultieren wollen, indem er vom Balkon der vierten Etage des Hotels Adlon ein stage diving in die der ersten weiblichen Präsidentin der USA zujubelnden Menge versuchte. Unglücklicherweise betrat das amerikanische Oberhaupt just in dem Moment den roten Teppich, als Bill ihr aufs Haupt hüpfte, und so gingen sie gemeinsam in die ewigen Jagdgründe ein.

Der Strom der Frauen mittleren Alters, die seitdem Herrn Kaulitz mit Astern auf dem Friedhof Oberschöneweide beehrten, riss erst ab, als sie auszusterben begannen. Die Damen aufgrund fortgeschrittenen Alters und die Astern, weil sie durch weitaus attraktivere Hybridzüchtungen verdrängt wurden. Der Datenstrom, der die amerikanische und die europäische Raumfahrtorganisation verbunden hatte, kam erst nach Jahren zähen diplomatischen Ringens mühsam wieder in Gang.

Als ich der Uni den Rücken zukehrte und mich bei der ESA bewarb, waren die Pläne für die Raumstation gerade fertig und unterzeichnet. Ich zog nach Paris in die Nähe des Champ de Mars, dessen Name mir nicht nur sehr passend erschien angesichts des Vorhabens den Mond als Startrampe für den bemannten Marsflug zu nutzen, sondern darüber hinaus verschaffte mir der mahnend in den Himmel gereckte Eiffelturm einen täglichen Motivationsschub. Ich war sozusagen an der Startrampe meiner Pläne angekommen, und wehe dem, der es wagte, sich mir jetzt noch in den Weg zu stellen!

Um noch einmal auf mein Geburtsdatum zurück zu kommen: Ich halte es für alles andere als einen Zufall, dass ich an einem 12. September geboren wurde, wo doch am 12. September 1959 die erste Raumsonde gestartet wurde, die gezielt auf dem Mond aufschlug: die Lunik 2 russischer Bauart. Die Russen waren es auch, die 11 Jahre später, nämlich am 12. September 1970, die erste erfolgreiche Rückkehr einer unbemannten Raumsonde mit Mondproben, der Luna 16, verzeichnen konnten. Auch wenn die Amerikaner sich als erste auf dem Mond mit Showeinlagen wie Känguruhüpfen und Golfspielen lächerlich gemacht haben: die ersten Sonden, die ersten Bilder und die ersten Gesteinsproben vom Mond sind sowjetisch! Gagarin war als erster Mensch im All! Russe! Sohn einer Kolchosbäuerin und eines Zimmermanns!

Klar: die Bilder von Neil Armstrong, Edwin Aldrin und Michael Collins haben sich in die Köpfe der Menschen eingegraben. Aber interessiert noch irgend jemanden, dass in der Apollo 12 ein Herr Alan Bean mitgeflogenen ist? – Nicht die Bohne! "It's one small step for a man, one giant leap for mankind", hieß es so großartig. Aber es verhielt sich doch wie im wahren Leben: die Reichen und Schönen steppten auf dem Mond vor laufenden Kameras, während die Underdogs, die Wasserträger, die ihnen den Weg gebahnt hatten, die Drecksarbeit erledigen konnten! Die ersten Projekte, die die beiden großen Raumfahrernationen schließlich gemeinsam unternahmen, wären fast an den absurden hygienischen Anforderungen der Amis gescheitert: Ganzkörperrasuren im All, das muss man sich mal vorstellen! Wollten die da oben für Hochglanz-Nacktfotos posieren?

Wer sich in Organisationen wie der ESA zurecht finden will, lernt den Umgangston unter den Mitgliedern eines Kanalbauarbeitertrupps in der Podbielskistraße zwischen List und Lahe schätzen: erfrischend direkt und effektiv. In internationalen Organisationen muss man erst die Rangfolge der zweckdienlichen Ärsche ausmachen, durch deren Darmwindungen man sich nach oben arbeiten kann. Aber mit Drecksarbeiten war ich ja vertraut. Ich brauchte knappe acht Jahre, um die Organisation nicht nur bis in ihre letzten Verästelungen zu studieren, sondern vor allem um mein persönliches Kanalsystem anzulegen. Zur Einweihung der Mond-Raumstation stand ich schließlich in der ersten Reihe der europäischen Abgesandten, die für würdig befunden worden waren, auf dem Obama-Parade-Boulevard, wie die Zugangsstraße zum Kennedy-Space-Center seit dem Dahinscheiden der amerikanischen Präsidentin hieß, Männchen zu machen, um ein Handshaking des 46. Präsidenten der USA, Johnny Depp, über sich ergehen zu lassen.

Vielleicht muss ich an dieser Stelle noch einmal kurz auf mich zurückkommen, genauer gesagt, auf meine Oberflächendarbietung. Als Maurerin hatte ich gelernt, wie wichtig es ist, solide Grundsteine zu legen, auf die alles andere aufbaut. Ohne ansprechende Putzarbeiten und Farbgestaltung kriegt man aber kein noch so gediegenes Gebäude an den Mann oder die Frau. Daher hatte ich auf meinem steilen Weg nach oben nichts ausgelassen, was meinem Erscheinungsbild zum Vorteil gereichte, alle kosmetischen, medizinischen, chirurgischen, aber auch ernährungswissenschaftlichen und motologischen Tricks ausgeschöpft, die die Moderne zu bieten hat, ich war trainiert und gestählt in Umgangsformen, Small Talk, internationalen Usancen auf jedem Parkett und natürlich auch in jedem Bett, meine Kleidung war von jenem unglaublich vorteilhaften, aber sehr diskreten Chic, der nachhaltig wirkt, ohne dabei aufzufallen. Ich schaffte es, dass Johnny, wie ich ihn noch am gleichen Abend nennen durfte, mir im Vorbeigehen unglücklicherweise auf den Fuß trat, was ihn zu sehr charmanten Entschuldigungssuaden nötigte und mir eine Einladung nach dem Empfang in seine Suite eintrug. Dort bot er mir unverzüglich eine Zigarre aus seiner Privatschatulle, nach der ich mir  doch die ganze Zeit die Finger geleckt hatte! Das heißt, de facto waren es natürlich seine Finger, die ich mit meiner Zungenspitze liebkoste, woraufhin er sofort die Hosen runter ließ. Wieso sollte ich eine Okkasion ausschlagen, die sich bei Generationen von Praktikantinnen im Weißen Haus bewährt hatte, wenn es darum ging sich für die Schlüsselstellen der Macht zu qualifizieren?

Ich stieg also in den persönlichen Beraterstab des Präsidenten auf, was der Arbeit der ESA offiziell sehr zugute kommen sollte, und es mir inoffiziell ermöglichte die Idee des „Ördmjute-Towers“, wie Johnny es zunächst amüsiert nannte, zu lancieren. Der 46. Präsident hatte sich bei den amerikanischen Fernsehjunkies im Wesentlichen durch jahrzehntelange mediale Präsenz für seinen Job qualifiziert. Sein Faible für völlig überdrehte Rollen  war seinem Volk dabei offensichtlich wurscht, kam meinen Plänen aber sehr zupass. Mein Kalkül ging auf: er ließ sich infizieren. Konnte ich ihm doch Monumentalwerke wie das Tadsch Mahal oder die Königinnenpyramiden von Gizeh vor Augen führen, die als Stein gewordene Liebeserklärungen gleichzeitig natürlich der Größe des Erbauers huldigten!
Während sich also im darauf folgenden Jahr unsere Jungs auf der Marsmission nach ihrer Zwischenstation auf dem Mond in der "Phobos" der ungeteilten Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sicher sein konnten, konzentrierte ich mich aufs Strippen ziehen bei Herrn Depp, was teilweise sehr wörtlich zu nehmen war. Der Präsident ließ schon bald streuen, man wolle den Marsrückkehrern eine würdige Unterkunft bauen, denn sie würden noch einige Wochen auf dem Mond verbringen müssen, ehe sie zur Erde aufbrachen. Dass die "Unterkunft" immer weiter in die Höhe schoss, fand niemand sonderlich bemerkenswert. Wen interessierte denn überhaupt noch, was auf dem Mond vor sich ging? Der Mars war angesagt! Das Tower-Projekt schritt rasant voran. Meine Baupläne waren schließlich in jahrzehntelanger Vorarbeit bis zum letzten Schräubchen perfekt ausgearbeitet!

Johnny und ich gönnten uns in den letzten Wochen vor der Fertigstellung ein ATNP, ein "Astronaut Training for Non-Professionals", wollten wir doch den Moment leibhaftig mitgestalten, da der Tower eingeweiht und die Mars-Mannen empfangen werden sollten.

Als ich endlich in dem Shuttle saß, das mich meinem Kindheitstraum mit 40.000 km/h näher schleuderte, wusste ich, dass ich erreicht hatte, was ich seit meinem misslichen Start vor fast vierzig Jahren als meine Mission begriffen hatte. Ich hatte keine Zeit verloren. Ein paar Jahre später und mein geistiger Zenit wäre vermutlich überschritten gewesen, meine weiblichen Potentiale unwirksam verpufft!

Schon aus großer Entfernung ragte uns der "Erdmute-Tower" wie ein mahnender Finger entgegen. Johnny zog neben mir die Luft tief ein. Es musste auch für ihn ein im wahrsten Sinne des Wortes erhebender Anblick sein. Sind doch all die babylonischen Türme, mit denen die Menschheit seit Jahrtausenden ihren Planeten ziert, nichts anderes als monumentale Manifestationen der phallischen Phantasien ihrer jeweiligen Machthaber!

Die Landung verlief glimpflich und der Empfang war überaus herzlich. Die Stationsmannschaft schien ausgehungert nach menschlichen Kontakten. Sie führte hier oben ein Leben, das wenig Entbehrungen vorsah, seit der Lunar-Reconnaissance-Orbiter Ende des ersten Jahrzehnts am Südpol des Mondes ein riesiges Wassereis-Reservoir entdeckt hatte, das die Besiedelung erst ermöglichte. Dennoch hatte es etwas Trostloses: Die Einsamkeit, das Eingeschlossensein, die mangelnden natürlichen Sinnesreize, die Abhängigkeit von den technischen Errungenschaften und von der Zuwendung, die die Trabantenbewohner von der Erdbevölkerung bekamen! Ja, ich hatte es immer im tiefsten Inneren gewusst: dies war der Ort, auf dem ich mir stellvertretend für alle Underdogs der Welt ein Denkmal setzen wollte. Ein Denkmal, das zugleich Residenz, Arbeitsstätte und Wohnraum für viele kommende Generationen bieten sollte. - Dauerhaft leben wollte ich hier aber nicht!

Als ich mit Johnny abends an dem Panoramafenster der Suite, die man uns auf der Station oberhalb der Wohnmodule und vis-à-vis des Towers eingerichtet hatte, das Champagnerglas in Richtung unseres Babys erhob, schloss ich endlich auch Frieden mit meinem Namen, der doch für die Erde stand, von der ich kam, und zugleich für den Mut, den ich bewiesen hatte, indem ich mir das hier erkämpft hatte: einen 1000 m hohen Traum aus Stahl und Aluminium. Der Name, der am nächsten Tag feierlich enthüllt werden sollte, zierte in riesigen Lettern, die vorläufig noch mit langen Stoffbahnen verkleidet waren, das Gebäude in der Vertikalen, beginnend oberhalb der ersten vier Stockwerke. Man würde, um den Schriftzug entziffern zu können, den Kopf nach links oben wenden müssen, eine Idee, die ich lange mit mir herum getragen hatte. Schließlich hätte die "Erdmute" im Sinne des Zenits auch zurück, nach unten weisen können, dahin, wo ich herkam. Aber nein, dies sollte kein Schlusspunkt sein! Es würde weiter gehen, und die Zukunft war oben!

Für einen winzigen Moment fühlte ich mich von einer warmen Welle der Solidarität, ja, fast so etwas wie Dankbarkeit erfasst, die mich mit Johnny verband. Ich küsste ihn zärtlich und wir erlebten eine rauschhafte Nacht miteinander, in der ich zum ersten Mal mit einem Mann schlief, weil ich einfach nur unbändige Lust empfand es zu tun und nicht weil es einem bestimmten Zweck dienlich war.
Anderntags sollte die Feierlichkeit rechtzeitig vor dem Eintreffen der "Phobos" vollzogen werden. Natürlich konnte man den Tower in jeder beliebigen Höhe mit einem kleinen Shuttle anfliegen, andocken und ihn über eine Schleuse betreten. Aber die Einweihung sollte ganz klassisch im "Freien" stattfinden. Man hatte vor dem Hauptschleuse im Parterrebereich ein rotes Band angebracht, das Johnny zerschneiden sollte, woraufhin die Stoffbahnen von dem Namenszug gezogen und wir das Gebäude betreten würden. Das ganze Stationsteam bis auf ein paar Leute, die den Anflug der bereits als ferner Punkt am Himmel erkennbaren "Phobos" beobachten und begleiten sollten, stand bereits in voller Montur an der Schleuse, als Johnny und ich mit Raumanzügen angetan dazuwatschelten. Anders kann man diese Form der Fortbewegung ja wohl kaum nennen. Kaum dass die Schleuse sich öffnete, fühlte ich mich auf einmal so unbeschreiblich leicht. Trotz des Trainings im Simulator war ich auf dieses wahrhaft erhebende, ja enthusiastische Gefühl nicht vorbereitet. Alles in mir hüpfte und ich musste mir nahezu Zwang antun, um nicht die albernen Luftsprünge der Apollo-Besatzung nachzuahmen!

Der feierliche Augenblick war gekommen. Johnny stand neben mir, die Schere in der Hand und zerschnitt das rote Band. Er reichte mir die Schere, griff nach dem Seil, an dem die Stoffbahnen befestigt waren, und zog daran.
Über uns rauschte es, und der Namenszug wurde langsam enthüllt. Als erstes war das Wort „Tower“ zu erkennen, dann tauchte der Buchstabe "p" auf, dann noch ein "p", und mit einem Schlag begriff ich, dass ich missbraucht worden war, dass dieser Amibastard neben mir, dieser Ausbund von Reichtum und Schönheit, von Glanz und Glamour und Macht, es mir, der armen dummen ewig strebend bemühten Versagermissgeburt es so richtig gezeigt hatte, indem er meine Pläne, mein Lebenswerk benutzt hatte, um seinem eitlen Ego ein Denkmal zu setzen! Mein ganzer lebenslänglich angestauter Frust, all mein jahrzehntelanges vergebliches Bemühen entluden sich blitzartig. Was war das auch für eine durchgeknallte Idee, die ich die ganzen Jahre in mir hatte reifen lassen? Der Schriftzug führte es mir überdeutlich vor Augen: einen Deppentower hatte ich mir da errichten wollen! Mir und all den anderen Deppen, die sich von jeher von denen da oben an der Nase hatten herumführen lassen!

Eine aufgeregte Funkansage der Station erübrigte glücklicherweise jeden Kommentar zu der überraschenden Umbenennung des Towers: ""Phobos" im Landeanflug!", quäkte die Stimme des Lotsen. Sofort richteten sich aller Augen auf das Raumschiff, das mittlerweile in allernächster Nähe angekommen war. Johnny, wohl wissend, dass die die Kameras und damit die Augen der ganzen Welt auf ihn gerichtet waren, stand stramm und salutierte in Richtung der „Phobos“. Wie auf Kommando kehrten alle Anwesenden dem "Depp-Tower" den Rücken, nahmen Aufstellung mit Blick auf den Landeplatz neben der Station und salutierten ebenfalls.

Mich hielt es nicht mehr. Unbemerkt von den anderen bewegte ich mich auf die Eingangsschleuse zu, die, von der albernen roten Schleife befreit, darauf wartete, dass jemand sie nun auch entjungferte. Mein erster Impuls, den Anzug aufzureißen, um sie anzupinkeln, wie es doch einst ein Angehöriger der verhassten High Society vorgemacht hatte, scheiterte nicht nur an meiner Verpackung, sondern an der trotz aller Wut noch vorhandenen Einsicht, dass ich als Frau eher mich selbst als das Objekt meines Zorns bekleckern würde. Ich berührte die Sensortaste. Geräuschlos öffneten sich die Türflügel und ebenso geräuschlos schlossen sie sich hinter mir. Ich verzichtete darauf mich meiner Montur zu entledigen, stellte nur den Funkkontakt ab und steuerte den Lift an, der mich nach oben befördern sollte. Ganz nach oben.

Als das Schleusentor auf dem Dach den Blick auf das All freigab, auf die große Unendlichkeit, die ich in diesem Moment als süße verlockende Freiheit empfand, konnte ich nicht mehr an mich halten und schickte einen Schrei an die Sterne, der allerdings in der Enge meines Helms erstickte und im Motorenschub der „Phobos“ unterging. Sie musste bereits unterhalb von mir schweben. Ich hüpfte zum Rand des Dachplateaus. Ganz tief unter mir konnte ich den amerikanischen Ober-Deppen erkennen. Seine Vorgängerin kam mir in den Sinn, und ehe ich den Gedanken recht zu Ende gedacht hatte, stürzte ich mich, meinem innersten Drang folgend, kopfüber vom Dach, die Schere voran, wie weiland Zorro oder von mir aus Superman, allerdings, wie mir unmittelbar darauf klar wurde, als eine völlig unwirksame Slow-Motion-Karikatur des schneidigen Rächers der Enterben: Ich trudelte in Zeitlupentempo meinem Ziel entgegen und konnte mich nur glücklich preisen, dass keiner meine absurde Attacke wahrnahm, weil die Phobos im Zentrum des Interesses stand. Dann trafen mich die gewaltigen Verwirbelungen, die der Umkehrschub der Motoren auf der Oberfläche des Mondes erzeugte, und schleuderten mich so heftig ins All, dass ich für einen kurzen Moment das Bewusstsein verlor.

Als ich wieder zu mir kam, waren Mond, "Phobos", "Depp-Tower", die ganze verlogene Muschpoke, die sich Menschheit nannte, weit unter mir. Ich schwebte den Sternen entgegen. Nie hatte ich mich so frei und bei mir selbst gefühlt. Nichts zog mich zurück in die Niederungen von Erde oder Mond. Es war mir egal, wie lange der Sauerstoffvorrat vorhielt. Nur zurück wollte ich nicht mehr. Nie mehr. Sollten die da unten irgendwann meine Abwesenheit bemerken und mich versuchen zu bergen, blieb mir immer noch die Schere. Aber das hatte Zeit. In einer Stunde begann nach Erdenrechnung ein neuer Tag.

Der 12. September 2040.

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